Date: January 02, 2005 at 17:13:59
From: Rhanie, [p213.54.50.121.tisdip.tiscali.de]
Subject: Re: Hier ist nochb ein (m. M.) durchaus lesenswerter Bericht über die "normalen" Zustände auf den Phils.
Hallo!
Nachdem die Antworten auf meinen letzten Statusbericht so zahlreich waren, unterhalt ich mich halt alleine weiter. ;(
Vorab: Ich war nie in einem dieser Verschläge drin, (Könnte da weder hochklettern, noch glaube ich daran, das die Dinger Leute wie mich aushalten würden, da ist nichts angedübelt (mangels Bohrer.) die Hauptträger (Kokosholzbalken) sind nur eingekeilt und halten durch ihre eigene Spannung, blöd nur, das Holz arbeitet, wer so schlau war, das Ding in der Regenzeit zu bauen, liegt in der Trockenzeit irgendwann mal recht abrupt im Fluss.) hab auch keine Verwanden dort, lies die Leuts bei Bedarf immer unten antreten, erspart einem einiges.
In dem Bericht stehen auch die Preise nach denen Hans gefragt hatte.
http://www.zeit.de/2004/52/Slum-Haupttext
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slums
Die Fledermausmenschen von Manila
Familie Sitoy lebt in einer hängenden Hütte unter einer Brücke in der philippinischen Hauptstadt – so wie Tausende andere Menschen. Armut, Feuchtigkeit und Krankheit können ihr nicht den Überlebenswillen nehmen. Aber jetzt kommen die Bulldozer, um die Verschläge zu räumen
Von Wolfgang Uchatius
Einen Meter über Muchacos Ohr donnert ein Sattelschlepper über den Asphalt. Drei Meter unter Muchacos Nase treibt stinkender Müll im Wasser. Mitten auf Muchacos Bauch sitzt eine Kakerlake.
Muchaco schläft trotzdem.
Den halben Tag hat er mit den anderen Kindern gespielt. So wie sie hier eben spielen. Sie haben alte Zigarettenstummel gesammelt und sie mit den Fingern in eine Kuhle im Staub geschnippt, wie Murmeln. Sie haben mit einer Plastiksandale auf leere Schnapsflaschen gezielt. Sie haben prustend und strampelnd im öligen Fluss gebadet.
Mit nassen Haaren kam Muchaco nach Hause. Vorsichtig das Gleichgewicht haltend, ist er die für einen Fünfjährigen viel zu große Leiter nach oben geklettert und in den Verschlag gekrochen. Auf einem Stück Gummimatte hat er sich eingerollt, hat den Arm unter den Kopf und den Kopf zur Seite gelegt. Jetzt atmet er so ruhig, als ob er nie wieder aufwachen wolle. Das hat der kleine Muchaco früh gelernt: schlafen, wenn er müde ist. Und nicht erst, wenn das Dröhnen der Motoren aufhört, der Gestank sich verflüchtigt, die Fliegen nicht mehr wimmeln. Denn das hört nie auf. Nicht hier, in den Wohnungen der Fledermausmenschen.
Wer über die Brücke fährt, sieht diese Wohnungen nicht. Der sieht nur vier Fahrspuren und blauen Dieselqualm. Er sieht die rostigen Sattelschlepper und die voll besetzten Überlandbusse, die mit heiserem Hupen den Navotas überqueren, und wenn er sich umwendet, dann sieht er das schwarze, schmutzige Wasser dieses Flusses und den Müll, der sich an seinen Ufern verfängt.
Jeder Lastwagen, jeder Bus bringt die Brücke zum Beben. Dann zittert der Beton. Die Menschen in den Autos spüren das nicht. Aber die in den Hütten. Direkt unter der hundert Meter langen Fahrbahn hängen die Verschläge, untereinander, übereinander und nebeneinander, knapp über dem Wasser. Wie Fledermäuse, die sich zum Schlafen in den Stein gekrallt haben. Irgendjemand ist irgendwann dieser Vergleich eingefallen. Inzwischen kennt fast jeder im Zwölf-Millionen-Moloch Manila das Wort, und viele sprechen es mit mitleidigem Gruseln aus: bat people. Fledermausmenschen.
150.000 sollen es sein, die so leben, unter den Brücken, über den Kanälen und Flussarmen der philippinischen Hauptstadt Manila. Einer Stadt, die reich und arm, Erste und Dritte Welt zugleich ist. In den Bürovierteln haben gut bezahlte Architekten aus Glastürmen und künstlichen Wasserfällen ein Abbild Amerikas geschaffen. In den Villendörfern zeigen reiche Ausländer in klimatisierten Räumen hinter Mauern und Stacheldraht, dass auch in den Tropen schweißfreies Wohnen möglich ist. Dazwischen wuchern die Slums.
Vier Millionen Menschen drängen sich in den Elendsvierteln und wollen leben. Sie quetschen ihre Verschläge in die letzten Lücken, schachteln ihre Baracken aufeinander, bauen ihre Hütten an feuchte Hänge. Wer trotzdem keinen Platz findet, hat als Rettung nur noch die Brücke, die Welt der Fledermausmenschen. Von dort dringt selten einmal eine Nachricht in den sauberen, den kühlen Teil Manilas, und wenn doch, dann ist es keine gute. So wie neulich, als ein Kleinkind aus einer morschen Hütte unter der Fahrbahn ins Wasser fiel. Nach zwei Tagen hatten sie den toten Körper noch immer nicht gefunden. Das stand dann in der Zeitung.
Aber hier, unter dieser Brücke, kann so ein Unglück nicht passieren. Nicht im Zuhause des kleinen Muchaco, in diesem sorgfältig gezimmerten Eigenheim der Armut. »Schau her, alles stabil!«, sagt der stolze Konstrukteur, sagt Luis, Muchacos Vater, der jetzt mit seiner Frau Marietta neben dem schlafenden Jungen sitzt. Zur Bestätigung seiner Baukunst rüttelt er an der Wand aus Holz und Pappe.
Luis ist ein kleiner, 47-jähriger Mann. Eine fleckige Arbeitshose umspannt seine kräftigen Beine, ein T-Shirt die schweren Oberarme. Seine Haare sind kurz und verschwitzt, tiefe Falten ziehen sich durch sein Gesicht, die Augen sind rot geädert und halb zugeschwollen von der ständigen Nachtarbeit, von den Handlangerdiensten im Fischereihafen, an sieben Tagen in der Woche, ohne Pause, ohne Urlaub. Ohne Fortschritt. Sie leben seit sechs Jahren hier.
Muchaco und die beiden kleinen Töchter waren noch gar nicht geboren, damals, 1998, als Luis und Marietta unter die Brücke zogen. Vier, fünf andere Familien waren schon da, hatten vorgemacht, wie sich eine Wohnung in der Luft bauen lässt, eine Bleibe, die das Letzte verloren hat, das die Hütten der Armen mit den Palästen der Reichen gemeinsam haben: dass sie auf dem Boden stehen.
Also kletterte auch Luis an einem Brückenpfeiler empor, verkeilte knapp unter der Fahrbahn ein paar Holzbohlen, nagelte Bambuslatten darüber, legte eine Gummimatte darauf. Das ist der Fußboden. Die Fahrbahn ist die Decke, die Betonpfeiler sind die Seitenwände, ein paar Holzstangen, mit Pappe verkleidet, sind die Vorder- und die Rückwand.
Luis baute diese Wohnung an einem Tag. Eine fensterlose, eckige, alle paar Sekunden unter der Wucht der Autos erzitternde Kammer. Fünf Meter lang, anderthalb Meter breit, einen Meter hoch. Siebeneinhalb Quadratmeter Fläche. Die Zuflucht der fünfköpfigen Familie Sitoy. Eine Wohnung, die nirgends so gut hinpasst wie ins 21. Jahrhundert.
Denn der Slum ist die Lebensform der Zukunft.
Nicht überall. Nicht in Westeuropa, wo Wissenschaftler über schrumpfende Städte diskutieren, wo Politiker verlassene Wohnblöcke einreißen lassen und alleinstehende Rentner in großen Häusern mit Gärten wohnen. Sondern in Asien, in Afrika, in Lateinamerika. 1995 lebten im Stadtgebiet von Manila neun Millionen Menschen. Heute sind es zwölf. Andere Städte des Südens wuchern noch schneller.
Ihr stärkster Wachstumsimpuls ist nicht die hohe Geburtenrate. Sie sinkt auch in vielen Entwicklungsländern. Es ist die Armut in den Dörfern. Vor dem Elend auf dem Land flüchten die Menschen in die Stadt und landen im Elendsviertel. So verwandelt sich die Dritte Welt in eine Welt der Megastädte. In eine Welt der Slums. Allein in den neunziger Jahren ist die Zahl der Slumbewohner weltweit um fast 40 Prozent gestiegen – auf inzwischen mehr als eine Milliarde Menschen. Das Leben in engen Baracken und winzigen Verschlägen wird zum Regelfall, zu der »dominanten Existenzform im Zeitalter der Globalisierung«, wie es der österreichische Sozialwissenschaftler Gerhard Schweizer, Autor des Buches Metropole, Moloch, Mythos, ausdrückt.
Von São Paulo bis Lagos, von Karatschi bis Jakarta: In wenigen Jahren werden im Süden der Welt 60 Prozent der Stadtbewohner in Armenvierteln leben, prognostiziert eine Studie der Vereinten Nationen. So wie Luis und Marietta Sitoy, die einst aus dem Süden der Philippinen nach Manila zogen. Zuerst kamen sie in einem Slum im Norden der Stadt unter, in der Baracke von Verwandten, die bald darauf Kinder bekamen und dann irgendwann sagten: »Es wird zu eng, ihr müsst jetzt gehen.« Mehr als ein paar Quadratmeter Erde hätten sie nicht gebraucht, um eine Hütte zu bauen, aber sie waren nicht zu finden. Auch ein Slum ist irgendwann voll. Es blieb ihnen nur noch die Brücke.
Alle paar Sekunden donnert ein Lastwagen vorbei. Oder ein Bus. Dann wackeln die Wände, dann zittert der Boden. Von unten klopft Luis gegen die bebende Fahrbahn. Er lacht. »Meine Freunde sagen, wir sind reich, denn wir wohnen unter dem teuersten Dach von ganz Manila.« Aber nicht unter dem kühlsten. Die Sonne heizt die steinerne Brücke auf wie einen alten Ofen. Luis hat alte Zeitungen an die Decke geklebt, als Schutz gegen die Hitze. Sie helfen kaum. Sogar den Kakerlaken ist es zu heiß. Erst wenn die Sonne sinkt, krabbeln sie aus unsichtbaren Löchern hervor.
In ihrer hölzernen Höhle kochen, essen, schlafen und waschen sich die Sitoys. Wohnen unter der Fahrbahn bedeutet: kriechen. Anfangs konnten wenigstens die Kinder in der niedrigen Kammer aufrecht stehen. Inzwischen muss selbst der fünfjährige Muchaco schon den Kopf einziehen. Der schwere Luis schiebt sich mit seinen breiten Schultern wie eine Robbe durch die Enge. Seine Frau, die zierliche, 25-jährige Marietta hat sich einen Hockgang antrainiert, bei dem die Schultern die Knie und nur die Fußsohlen den Boden berühren. So watschelt sie behände über die Bambuslatten, ohne sich den Kopf zu stoßen.
Es ist ihr wenig im Weg: in einer Ecke der Gaskocher, in der anderen die Glühbirne, in der Mitte der Ventilator, der die warme Luft verrührt. Den Strom zapfen die Sitoys illegal von einer Leitung unter der Straße ab. Hosen und Hemden der Familie hat Marietta in einem blauen Müllsack verstaut. An der Wand hängt ein ausgebleichtes Bild, ein paar Umrisse sind noch zu erkennen: die Muttergottes mit dem Christuskind. Vor ihm setzt sich die Familie abends zusammen und betet. »Salamat po sa maghapon«, sagen sie dann – »danke für den Tag«. Was die fünf sonst noch besitzen, Seife, Werkzeug, eine Hand voll blechernen Schmuck, das passt in ein Plastikschränkchen.
Als er damals den Fußboden zusammennagelte, hat Luis am Ende der Kammer ein Loch gelassen. Das Abwasser-, Müll- und Kloloch. Es ersetzt Toilette, Ausguss, Abfalleimer. Was durchfällt, schluckt der Fluss, der Verdauungstrakt der Elendsviertel. In seinem Wasser gärt, fault, verteilt sich, was niemand mehr braucht.
Die Kinder stört der Gestank nicht. Irgendwo müssen sie sich ja bewegen. Der schmale Uferstreifen neben der Brücke ist ihr Spielplatz. Ein angebrochener Plastikstuhl sorgt für ein bisschen Fallhöhe. Mit einem Satz ist Muchaco im Wasser.
»Muchaco, du Mistkerl, komm da raus«, schreit Marietta. Sie schreit sonst nie. Spricht wenig und mit leiser Stimme. Aber jetzt ist sie ihrem Sohn nachgestiegen, steht neben dem Plastikstuhl und ruft wütend hinüber zu Muchaco. Der schwimmt weiter fröhlich in der Brühe. Das heißt, er strampelt und planscht. Schwimmen kann Muchaco nicht, das kann hier keiner, aber nicht unterzugehen, das hat er sich irgendwann beigebracht. Lachend und kreischend spritzt er einen anderen Jungen an, gemeinsam tauchen sie unter und wieder auf, spucken, husten und wischen sich das Wasser von den Wimpern. Und Marietta schreit.
Sie behält Recht mit ihrer Ahnung. Ein paar Tage später hat Muchaco eine schwere Augenentzündung, und die Familie hat neue Schwierigkeiten. Luis weiß nicht, wie er das Antibiotikum bezahlen soll. Er geht von Nachbar zu Nachbar, pumpt sich einen Peso hier und einen dort, von Leuten, die eigentlich keine Münze entbehren können, am Ende hat er die 300 Pesos zusammen, umgerechnet 5 Euro. Es hat auch sein Gutes, dass sie inzwischen so viele sind unter der Brücke.
Am Anfang waren es nur ein paar Familien. Lange blieb das nicht so. Auf die Sitoys folgten die Bactols, die Maglientes, die Nollas und Dutzende andere Familien. Landflüchtige, Obdachsuchende allesamt, Versprengte von den 7.100 Inseln des philippinischen Archipels, die es auf rostigen Fähren, in billigen Bussen und manchmal auch zu Fuß bis nach Manila geschafft haben. Am Fluss war der Weg zu Ende. Sie besorgten sich Holzabfälle und Plastikplanen, kauften Bambuslatten für ein paar Pesos und hämmerten ihre Verschläge zusammen. Heute hängt eine ganze Siedlung unter der Brücke. Am Ufer beginnend, reicht sie bis in die Mitte des Flusses, von Pfählen gestützt, von Stricken gehalten, ein Wunder ungeplanter Architektur.
Hunderte Bohlen und Balken, Bretter und Planken verbinden die Hütten, fügen sich zusammen zu schmierigen Wegen und glitschigen Gängen. Auf ihnen balanciert, wer sich von Kammer zu Kammer bewegt. Von unten schimmert schwarz der Fluss durch die Ritzen. Ein Hund bellt, ein Hahn schreit, Frauen lachen, Kinder brüllen, Britney Spears singt, Ratten huschen über nasses Holz. Hinter rostigen Blechstücken, grauen Plastikfolien und alten Reissäcken verbergen sich Schlafplätze, Kochnischen und Klolöcher und wahrscheinlich Dutzende ansteckende Krankheiten. Aber wenn jemand einen Vorhang zur Seite schiebt und sich hindurchzwängt durch eine der Nischen, zieht er vorher die Schuhe aus. Denn dies ist sein Zuhause.
105 Familien sollen es sein, die hier wohnen. Die Fledermausmenschen haben sich selbst gezählt, es war das letzte Geheimnis des Slums. Alles andere wissen die Sitoys längst über ihre Nachbarn, bekommen es täglich mit. Die hübsche Lette streitet sich mit ihrem betrunkenen Mann, gleich wird er sie wieder schlagen. Der magere Junior macht sich auf den Weg zu seinem Job auf der Baustelle. Arleen und Elias schlafen miteinander. Dominado füttert seine Kampfhähne, die er unter der Brücke in winzigen Käfigen verwöhnt wie Schoßhunde. Luis müsste nur die Hand ausstrecken, die Pappe durchstoßen, dünne Bretter beiseite schieben, dann könnte er hinüberlangen zu seinen Nachbarn. Hinter solchen Wänden bleibt nichts verborgen.
Das Meer ist nur ein paar hundert Meter entfernt, die nächste Shopping-Mall mit McDonald’s-Filiale und Kosmetiksalon ebenfalls. Für Marietta, Muchacos Mutter, ist das eine fremde Welt. Seit fast einem Jahr hat sie die Gegend um die Brücke nicht verlassen. Warum auch? Hier gibt es alles, was die Familie zum Leben braucht. Und was es hier nicht gibt, könnten sich die Sitoys ohnehin nicht leisten. Wasser zapfen sie aus einem Sammelanschluss gleich neben der Brücke, meistens ist es sauber. Frauen verkaufen Reis, Brot und Fisch, Seife und Süßigkeiten. Die winzigen, voll gestopften Läden haben sie zwischen die Hütten neben der Brücke gezwängt. Ein Friseur schneidet Haare. Und Remy, der Schneider, flickt zerrissene Hemden mit überraschend sicherer Hand, obwohl er auch nüchtern aussieht wie betrunken. Irgendwann nach dem tausendsten Rausch sind die Augen glasig geblieben.
Sie kennen sich, sie helfen sich, sie streiten und versöhnen sich. Sie können einander gar nicht aus dem Weg gehen. Der Slum, diese verdreckte, stinkende, zusammengequetschte Siedlung, hat sich eine überraschend bürgerliche Ordnung bewahrt. Wenn Luis abends zur Arbeit geht, reicht ihm Marietta ein frisch gewaschenes, sorgfältig gefaltetes Hemd. Fast alle hier leben in Familien zusammen. Die Männer verdienen ein wenig Geld, die Frauen bleiben zu Hause und passen auf die Kinder auf, solange es gar nicht anders geht, dann suchen auch sie sich einen Job. Manche sparen auf einen Fernseher, andere auf eine neue Schultasche für die Kinder.
Aus westlicher Sicht sind Slums Brutstätten der Gewalt, erfüllt von Mord und Schießereien. Das trifft zu auf viele Elendsviertel, vor allem in den Megastädten Lateinamerikas und Afrikas, wo eine Kultur der Gewalt längst die traditionellen Bindungen aufgelöst hat. In Asien ist dies seltener. Unter den Fledermausmenschen finden sich einige wenige Drogendealer und Kleinkriminelle, meist sind es junge Männer. Sie wollen noch nicht einsehen, dass das Leben der Älteren bald auch ihr Alltag sein wird: zehn Stunden am Tag schuften und trotzdem nie genug Geld haben. Also ziehen sie abends los, in eine bessere Gegend, stehlen Handys und Geldbeutel. Das lockt hin und wieder Uniformierte unter die Brücke.
Die Polizisten schießen in die Luft, scheuchen die Sitoys und ihre Nachbarn auf, lassen sie stundenlang im Dunkeln am Ufer stehen, durchwühlen das hölzerne Dickicht. Aber finden selten mehr als ein paar Pesos. Mürrisch ziehen sie wieder ab, am nächsten Morgen lachen die Frauen über sie.
Fast jeden Tag trifft sich Marietta mit ihnen auf dem Uferstreifen.
»Hast du schon gehört, dass Dominados Hahn gestorben ist?«
»Nein, wie furchtbar!«
»Sah Remy gestern nicht wieder schrecklich aus?«
»Ach, er trinkt zu viel!«
Klatsch im Slum. Im Stehen, ohne Kaffee und ohne Kuchen, dafür mit umso mehr Geschrei. Die stille Marietta spricht auch da nicht viel, sie lächelt nur, wenn die Frauen ihre Witze über die Männer reißen. Sie erzählen Geschichten, lustige und bedrückende, sie lachen, prusten, schauen traurig. Dann klettern sie zurück in ihre Verschläge und versuchen, über den Tag zu kommen.
Reis für die ganze Familie? 40 Pesos. Gemüse oder Fisch? 40 Pesos. Trockenmilch fürs Baby? 50 Pesos. Wasser? 6 Pesos. Gas für den Kocher? 10 Pesos. Macht 146 Pesos pro Tag. Marietta, die ruhige Rechnerin, hat das im Kopf, denkt immer daran. Muss sie ja, sie verwaltet den Lohn, die 150 Pesos, umgerechnet 2,50 Euro, die Luis jeden Morgen nach der Arbeit aus dem Hafen mitbringt.
Wenn die Sonne aufgeht, legt er sich hin, und sie steht auf. Und fängt an zu kalkulieren. Spart sie an der Milch, kann sie ein Stück Seife kaufen und neue Windeln. Die einjährige Mary-Jean hat oft Durchfall in letzter Zeit. Wird er zu schlimm, streift Marietta ihr die Windel ab, zieht den 20-Liter-Wasserkanister näher, als Sichtschutz, und hält mit gleichmütiger Miene die von Krämpfen geschüttelte Kleine über das Kloloch. Sie hofft, dass die Krankheit billig bleibt. Dass das Virus von allein verschwindet und sie kein Geld für Arzneien auszugeben braucht.
Am Abend ist der Tageslohn dahin. Luis geht zur Arbeit, am nächsten Tag fangen sie von vorne an, mit neuen 150 Pesos. So leben die Sitoys von der Hand in den Mund, von heute auf morgen, wie einst die Jäger im Urwald. Ein Leben wie aus ferner Vergangenheit, inmitten der lärmenden Moderne.
Aber nicht mehr lange! Bald kommen wir hier raus! Früher, sagt Luis, habe er oft diesen Gedanken gehabt. Mit den Jahren ist er leiser geworden. Zu mächtig ist der Gegenbeweis. Keiner unter der Brücke hat den Weg nach oben geschafft. Ein paar Verzweifelte sind sogar zurück in die Provinz gezogen. So wie auch Marietta es vorschlägt, zaghaft noch, aber immer häufiger in letzter Zeit. Luis widerspricht stets, zu hart, zu aussichtslos scheint die Feldarbeit. Er besitzt kein Land, die Ernte würde ihm nicht gehören. Er könnte sich nur als Helfer bei einem Großbauern verdingen für ein paar Pesos am Tag. Für die Kinder wäre der Weg zur Schule viel zu weit. Muchaco hat bald seinen ersten Tag Unterricht, und die ältere Tocher Marjorie ist auch schon vier Jahre alt.
Schule? Muchaco kann es kaum erwarten. »Wann geht es endlich los?«, fragt er fast jeden Morgen. Schon ein Dutzend Mal hat er sich den Weg zeigen lassen, es ist nicht weit bis zu dem kleinen Steinbau inmitten der Hüttenlandschaft, in dem die Kinder aus den Slums rechnen und schreiben lernen. Zappelig erzählt Muchaco davon, dass er immer fleißig lernen wolle, und dann, schon bald, werde er Chauffeur sein, wie Luis einer ist. Oder war, bevor die Sache mit der Einspritzpumpe passierte.
Luis ist eine Ausnahme unter der Brücke. Fast alle hier haben sie irgendeinen Job. Sie sammeln Müll, verkaufen Bananen, schleppen Steine. Aber kaum einer hat einen richtigen Beruf. Draußen auf dem Land haben sie nichts gelernt, außer die Felder zu bestellen. Luis ist anders. Er hat eine Prüfung bestanden, einen Schein bekommen, er kann einen Jeepney fahren. So nennen sie auf den Philippinen die Sammeltaxis.
Jahrelang hat Luis eine dieser bunt bemalten Mischungen aus Jeep und Kleinwagen durch das nächtliche Manila gesteuert. Neben einer lärmenden, leuchtenden Diskothek war sein Standplatz. Von dort fuhr er durch leere Straßen und über dunkle Kreuzungen. Er stritt sich mit Betrunkenen, brachte junge Paare nach Hause und dösende Fabrikarbeiter zur Frühschicht. Der Lohn waren 300 Pesos pro Nacht, 5 Euro. Stets hat er darauf gehofft, einmal die besser bezahlte Tagschicht fahren zu können. Er hat davon geträumt, selbst einen Jeepney zu besitzen, wofür er 300.000 Pesos brauchte. Das wäre sein Weg aus dem Slum gewesen. Die Einspritzpumpe machte dem Traum ein Ende. Vor einem halben Jahr ging sie kaputt, und damit war Luis arbeitslos. Die Reparatur müsste der Eigentümer des Jeepneys bezahlen, der aber ist Seemann und kommt erst in einigen Monaten wieder an Land. So lange kann Luis nicht warten. Er braucht den Lohn.
Nach wochenlangem Suchen hat er einen neuen Job gefunden, für das halbe Geld. Jetzt macht er sich täglich, nach Sonnenuntergang, auf den Weg zum Hafen, nicht weit von der Brücke. An der Kaimauer legen jede Nacht die großen Schiffe an, heimgekehrt von langer Fahrt durch das Südchinesische Meer, den Rumpf gefüllt mit feuchten Fischen. Schwitzende Männer hieven den Fang an Land, von Hand zu Hand reichen sie die gefüllten Bottiche, jeder Bottich einen Zentner schwer, ziehen sie über den nassen Beton in die Halle, wo andere Männer sie aneinander reihen, geordnet nach Sorte und Schiff, ausgestellt für die Großhändler und Lieferanten, die hier ihre Lastwagen füllen. Es sind Millionen Fische. Und Tausende billige Hände, Tausende von Männern, die hier Arbeit finden. Fast alle wohnen in den Slums.
Luis schippt das Eis, mit dem die Großhändler ihren Einkauf kühlen. Er steht in einem offenen Stahlcontainer und schaufelt die Brocken in eiserne Eimer. Unten drückt die Kälte gegen die Gummistiefel, oben dringt der Schweiß durch das Hemd, nach zehn Minuten zieht Luis es aus, schwitzt trotzdem, schaufelt weiter. So geht es jede Nacht bis vier Uhr früh.
Der Lohn sind 150 Pesos, die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns. In Manila ist der so verbindlich wie die Straßenverkehrsordnung, es ist, als gäbe es die Vorschrift gar nicht. Früher hatten die Arbeiter feste Verträge, inzwischen werden sie von Monat zu Monat, von Woche zu Woche angeheuert. Wie in den meisten Entwicklungsländern schwindet auch in den Philippinen die Zahl der festen Jobs, die den Menschen ein regelmäßiges Einkommen sichern.
Am nächsten Morgen ist Luis betrunken. Marietta senkt den Blick, als sie erklärt, wo ihr Mann den Tag verbringt. Das Hirn mit Schnaps betäubt, schnarcht er im Verschlag eines anderen Hafenarbeiters. Erst am späten Nachmittag klettert Luis in die Kammer. Verlegen murmelt er etwas von dem Drang, alles vergessen zu wollen. Gleich nach der Arbeit hatten sie den Gin geöffnet, made in the Philippines. Schmeckt nicht besonders. »Bier können wir uns nicht leisten«, sagt Luis. Hat wenig Alkohol, kostet viel Geld. Ein schlechtes Geschäft für jeden, der den schnellen Rausch sucht. Sie trinken viel unter der Brücke, vor allem, seitdem sie nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Seit das Schild oben an der Straße prangt.
Groß und farbig bedruckt steht es da, geschmückt mit dem Namen der philippinischen Präsidentin, Gloria Macapagal Arroyo. Die Regierung plant neben der Brücke den Bau einer Pumpanlage. Das Meer ist nah, die neue Maschine soll dafür sorgen, dass nicht mehr alle paar Wochen, bei jeder schweren Flut, nach jedem starken Regen die Straßen im öligen Wasser versinken. Ein Segen für das Viertel, eigentlich. Aber nicht für die Fledermausmenschen.
Ihre Verschläge sind der Pumpe im Weg. So wie Slums dauernd irgendwo im Weg sind, überall auf der Welt. Die Geschichte wiederholt sich tausendfach: Jahrelang stört sich keiner an den Hütten, fast gehören sie zum Stadtbild, doch dann werden plötzlich Straßen erweitert, Schienen gelegt, neue Wohnviertel geplant, und weil den Menschen in den Armensiedlungen das Land nicht gehört, auf dem sie hausen, und die Brücke schon gar nicht, unter der sie hängen, werden sie vertrieben. Selten kümmert es jemanden, wo sie bleiben.
Diesmal geben sich die philippinischen Behörden generös, sie bieten eine Umsiedlung an. Draußen auf dem Land, zwei Stunden Busfahrt von Manila entfernt, locken steinerne, stabile Häuser mit Fenstern und richtigen Toiletten. Towerville heißt die Siedlung, sie böte die Chance, auf eine Weise zu wohnen, wie sie es sich unter der Brücke alle erträumen. Trocken. Sauber. Kühl. Und jeder hätte genug Platz. Trotzdem wollen die Sitoys nicht hin. Sie können es nicht.
»Wovon sollen wir in Towerville leben?«, fragt Luis. Er hat von Leuten in einer ähnlichen Siedlung gehört. Sie haben jetzt einen steinernen Fußboden, aber der Reis reicht nicht mehr für alle. Denn draußen auf dem Land gibt es keinen Fischereihafen, keine Fabriken und keine Baustellen. Auch keine reichen Geschäftsleute, die in Villen wohnen und Handlanger brauchen, Fahrer zum Beispiel oder Hausmädchen. So ziehen die Fabriken die Arbeiter an und die Paläste die Hütten. Weil es aber zu viele sind, die überleben wollen, bleibt jedem nur eine Hand voll Pesos. Lehnte Luis seinen schlechten Lohn ab, würde er ersetzt, es gibt ja genug andere. Also arbeitet er weiter. Ein Leben lang.
Den genauen Tag verraten die Behörden nicht, aber irgendwann in den nächsten Wochen werden die Räumungstrupps unter der Brücke stehen. Geschützt von den Gewehren der Polizei, werden sie mit Brechstangen und schweren Hämmern die Verschläge einreißen. Die Fledermausmenschen werden versuchen, sich zu wehren, und nur Zoto wird sie unterstützen. Zoto ist eine Art Gewerkschaft der Armen. In ihr haben sich vor dreißig Jahren die Bewohner von Tondo, Manilas größtem Elendsviertel, zusammengeschlossen. Weil sich die Regierung nicht um sie kümmerte, wollten sie sich künftig selbst helfen.
Heute hat Zoto 10.000 Mitglieder, unterhält ein halbes Dutzend Kindertagesstätten und Krankenstationen in verschiedenen Slums und bildet Gesundheitshelfer aus, finanziert unter anderem von der deutschen Hilfsorganisation Brot für die Welt. Nach einer Analyse der Vereinten Nationen ist dies einer der wenigen Vorteile, welche die Globalisierung den Menschen in den Elendsvierteln des Südens gebracht hat: Seitdem die Welt ökonomisch zusammengewachsen ist, haben sie besseren Zugang zu Geld aus dem Ausland.
Um die Zerstörung des Brückendorfes zu verhindern, werden die Leute von Zoto vielleicht eine Sitzblockade organisieren. Luis, Marietta und die anderen werden vor der Shopping-Mall demonstrieren oder sogar vor dem Parlament. Am Ende aber werden die Fledermausmenschen keine Chance gegen die Polizei und die Räumungstrupps haben. Sie werden die Brücke verlassen müssen.
Manchmal, am Abend, wenn Luis schon auf dem Weg zur Arbeit ist, geht Marietta mit den Kindern hinüber in das Hüttendorf gleich neben der Straße. Unter einem rostigen Dach stehen dort ein Tisch, ein paar Plastikstühle und alte Spielautomaten. Das ist die Bar, der Nachtclub des Slums.
Die Fledermausmenschen tanzen und trinken. Sie schalten den Karaoke-Fernseher ein, das Mikrofon wandert durch die Reihen, und vom Gin beschwerte Stimmen singen englische Lieder. A Man Without Love zum Beispiel oder Sex Bomb. Marietta singt nicht, aber sie wippt lächelnd mit den nackten Zehen im Takt, und auf ihrem Arm wiegt sie die einjährige Mary-Jean. Sie hat ihr ein paar rote und blaue Spangen ins dünne Haar gesteckt, als Schmuck für den Abend. Muchaco springt und zappelt und schlenkert mit den Armen. Applaus begleitet die letzten ausgeleierten Klänge, der Sänger verbeugt sich wie ein großer Star, das Publikum jubelt, Marietta strahlt, und irgendjemand sagt wieder den Satz, den sie hier oft sagen, wie aus Trotz: »Wir sind arm, aber wir sind glücklich.«
Luis ist da längst wieder im Hafen und schaufelt schwitzend das Eis in die Eimer.
(c) DIE ZEIT 16.12.2004 Nr.52
Gruß Rhanie.
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